Unsere „westliche Welt“ ist müde. Leben wir in einer verfallenden Kultur, wie das späte alte Rom? Wir haben schon lange die Zukunft aus den Augen verloren. Der Wohlstand hat uns satt gemacht. Wir schaffen unseren Alltag allenfalls noch mit Krisenmanagement, sehen überall Probleme, aber kein Licht am Ende des Tunnels. Darum beschäftigen wir uns lieber mit uns selbst. Psychologen, Berater, Coaches, Wunderheiler oder Esoteriker sollen einen Ausweg aus der Orientierungslosigkeit finden. Wir beschäftigen Fremddeuter, da die Gegenwart uns zu überrollen droht. Die vornehmlich am Profit ausgerichtete Arbeitswelt drängt uns in eine Richtung, die unser tieferes Selbst immer weniger überzeugt. Unsere Partnerschaften leiden unter einer Anspruchsexplosion, die durch die Bespiegelung der sozialen Netzwerke weiter zunimmt. Natürlich gibt es auch Nischen der gelungenen Vertraulichkeit. Aber die Risse sind tief und überall zu spüren.
Die große Politik ist davon nur ein Abbild. Wechselseitig beschuldigen die Politiker die Politik-Müdigkeit der Bürger, und die Bürger die Bürgerferne der Politik. Das demokratische Projekt der repräsentativen Demokratie funktioniert zur Zeit lediglich noch im technischen Sinne. Für vier Jahre werden Vertreter gewählt, die uns unsere Stimme nehmen, und gleich auch die Verantwortung für das Ganze. Das politische Denken, das uns verblieben ist, wird durch die Medien gefiltert. Sie fragen unsere Meinung ab und setzen die Show der Politik ins richtige Licht. Sie reflektieren für uns, präsentieren Sensation um Sensation und gaukeln uns vor, dass alles (irgendwie) seine Richtigkeit hat. Zugleich setzt sich bei uns hinter der Oberfläche ein anders Bild fest. Da ist Leere, Langeweile und Unzufriedenheit. Das Gefühl einer Unstimmigkeit, für die noch kein richtiger Ausdruck gefunden ist.
Der Politik sind die Visionen abhanden gekommen. Nach der sozialen Marktwirtschaft und dem „Demokratie wagen“ Anfang der 70er gab es nur noch ein zurück, eine Verstrickung in Abwehrkämpfe – Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, der Umweltverschmutzung und des Klimawandels, der Rüstung und des Terrorismus, die Regulierung der Wiedervereinigung und der Flüchtlingsströme. Wir erleben nur noch Krisenmanagement, aber das ist ermüdend. Das entspricht der Alltagsroutine im Job oder im Familienalltag, in der die Sonn- und Feiertage längst abgeschafft sind und nur noch dazu dienen, die Wunden zu lecken. Den Anforderungen irgendwie nachkommen, den stetig wachsenden Aufgaben hinterherlaufen – die Strategien in der großen Politik und im kleinen Bürgeralltag ähneln sich mehr als man manchmal denkt.
In der Politik sind selbst technokratische Reformen, die noch nicht die großen Ideen und Ideale betreffen, weit von der Realisierung entfernt. Die große Steuerreform, die Neuordnung der Bundesländer, eine gerechtere Belastung bei der Sozialversicherung, die deutliche Verringerung der Arbeitszeit, die Einführung einer Mindestrente oder einer flächendeckenden Kinderbetreuung, die ihren Namen verdient, ein echter Ausbau günstiger öffentlicher Verkehrsmittel, die Zurückdrängung der Autos aus den Innenstädten, eine dezentrale ökologische Energieversorgung und endlich Stop für Kohle und Gas, umfassende Wärmedämmung der Altbauten, die Begrenzung des Spritverbrauchs von PKW auf 3 Liter, endlich ausreichend Personal in sozialen Einrichtungen wie Krankenhäusern, Pflegeheimen, Kindergärten und Schulen – davon sind wir noch weit entfernt. Oft geht es sogar in die entgegengesetzte Richtung.
Obwohl all diese Punkte seit Jahren immer mal wieder zum Thema werden und die meisten Politiker sich zu diesen oder ähnlichen Ansätzen bekennen, gibt es keine echten Bemühungen, zu durchgreifenden Lösungen zu kommen. Alles wird zerredet und geht im kleinlichen Streit der Parteien unter. Wo die Phantasie fehlt, begibt man sich gern unter das vorherrschenden Spardiktat mit seiner künstlichen Verknappung der Finanzen. Ein enges Korsett, das unseren Haushalten immer wieder übergestülpt wird – in einem der reichsten Länder der Erde. So paradox es ist – aber dass wir sparen müssen, glaubt eigentlich fast jeder bei uns. Wobei es widersinnig ist, dass ein Gesunder ein Korsett tragen soll – nur damit er ja nicht auf die Idee kommt, aus der Reihe zu tanzen.
Unermessliche Reichtümer werden aufgehäuft, aber durch das rigide Spardiktat gelingt es der Gesellschaft, sich auch ohne eine gerechte Besteuerung der hohen, immer weiter steigenden Einkommen und Vermögen irgendwie über Wasser zu halten. Wir begnügen uns mit einer phantasielosen Politik der permanenten Kürzungen und der Produktivitätssteigerungen, die den Einzelnen immer mehr unter Druck setzt, viele gesellschaftliche Bereiche dauerhaft unterversorgt und zu einem mittlerweile vielfach beachteten Investitionsstau führt. Dieser Stau betrifft Straßen und Brücken, die Bahn oder die Schulen. Er höhlt unser Bildungs- und Gesundheitssystem nach und nach aus. Er befestigt Arbeitslosigkeit gegen jede Notwendigkeit. Und zusätzlich werden durch die Doktrin der Knappheit auch unsere Kreativität und Phantasie beschnitten, unsere Bereitschaft, etwas neues zu denken und auszuprobieren.
Da gäbe es ja durchaus noch weitreichendere Ziele als die oben angesprochenen Reformen: ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle Bürger, eine echte Bildungsrevolution in den Schulen, die den Frontalunterricht und die alten Lehrmethoden der vergangenen Jahrhunderte durch individualisierte Ansätze und Kleingruppen ablöst, wie das Bildungsforscher schon lange fordern. Einen radikalen Umbau des Gesundheitssystems, das beim individuellen Erhalt der Gesundheit, bei gesunden Lebens- und Arbeitsformen ansetzt und die Chemie und Technik-fixierte Reparaturmedizin auf die hinteren Plätze verweist. Und nicht zuletzt eine durchgreifende Demokratisierung und Bürgerbeteiligung, angefangen bei den Kommunen, mit Bürgerhaushalten, transparenten Projekten, eigenen Steuern und Gestaltungsmöglichkeiten. Mitsprache durch Internet-Foren und vielfältige Mitwirkungsmöglichkeiten, die das Monopol der Parteien und ihrer Abgeordneten aushebeln und die Bürger aus ihrer politischen Schläfrigkeit aufwecken. Wer mitwirken will, hat plötzlich keine Ausreden mehr, und kann nicht alles auf die böse Politik schieben. Das wäre heilsam. Aber für diese Veränderungen, die viele von uns befürworten, sind wir insgesamt noch nicht bereit. Sie bräuchten einen gesellschaftlichen Aufbruch, der vieles in Frage stellen würde, der aber nur von uns selbst kommen kann.
Das Spardiktat macht die Zukunft zur Tabuzone. Wer – angeblich (und das ist der Trick) – kein Geld hat, kann auch keine Pläne schmieden, da diese ja alle viel Geld kosten. Er kann sich nur auf die mittelmäßige Gegenwart beschränken und versuchen, wie eine routinierte Hausfrau da und dort noch mehr zu sparen, um vielleicht hier noch ein paar vernünftige Schuhe bezahlen zu können. Obwohl der Ehemann, um im Bilde zu bleiben, extrem gut verdient und jede Woche ein Großteil des Einkommens im Spielkasino verzockt. Nur darüber reden – das dürfen wir nicht. In den Medien oder bei der Linken gibt es öfter diesen Aufschrei über die unermessliche Gier der Reichen (mit gut recherchierten Zahlen, Statistiken, Vergleichen, die die gesellschaftliche Drift zwischen Arm und Reich belegen) – durchaus populär. Aber im herrschenden Mainstream bleibt das bisher folgenlos – zu eng verzahnt ist man mit diesen Schichten, wenn man einmal den Aufstieg in den Olymp der Politik geschafft hat. Man ist dann selbst doch irgendwie einer von denen. „Leistung muss sich lohnen.“ Also Vorsicht mit vorschnellen Vorverurteilungen!
Ein kleiner, aber illustrer Teil der Gesellschaft hat sich nach oben verabschiedet – spielt in der Kasino-Champions-League, die mit dem nationalen Gesellschaftstheater nichts mehr zu tun haben will. Steuern zahlt man auf irgendwelchen obskuren Inseln über diffuse Finanzmodelle, unterstützt von Banken, Anwälten, Finanzberatern. Man lebt noch hier in Deutschland, zumindest zum Teil, doch seinen Schatz kultiviert man anderswo. Man fühlt sich weltgewandt und international, handelt jedoch eigentlich nur kleingeistig und egoistisch. Doch das Problem hat mindestens zwei Seiten: Die einen wollen ihren Reichtum nicht teilen, die anderen wollen nicht regieren – es ist einfacher, sich gegenüber der übrigen Gesellschaft zum Hohepriester der Sparsamkeit aufzuschwingen, als dort, wo das Geld nur so herumliegt, auch nur einen kleinen Anteil für die Allgemeinheit zurückzufordern.
Es braucht nur wenig Vorbildung, um die immense Schuldenlast in Deutschland von 2 Billionen plus X mit dem Vermögensberg, der mehr als doppelt so hoch ist, in Beziehung zu setzen. Deutschland ist bei sich selbst verschuldet, nicht bei anderen. Müssten wir für die Schulden nicht jedes Jahr einen Berg Zinsen bezahlen, könnten wir viele Sparzwänge mit einem Federstrich beseitigen. Es wäre ein leichtes, alle Kommunen im Handumdrehen schuldenfrei zu machen – aber das ist nicht gewollt. Warum eigentlich nicht? Widerspricht das einer schwäbisch-schottischen Haushaltsmoral?
Hat der Durchschnitts-Politiker also Angst vor den Reichen? Oder sogar übergroßen Respekt? Ist Reichtum so etwas wie der neue Adel – herrscht bei uns Geld-Feudalismus? Man könnte das Ganze auch von einer anderen Seite aufziehen. Es ist gar nicht das Spardiktat, sondern unsere mangelnde Bereitschaft, Zukunft zu denken und in unser Handeln aufzunehmen, die uns in der Routine der Sachzwänge stecken lässt. Wir setzen uns demnach allzu gern mir den Belanglosigkeiten eines Trump oder Erdogan auseinander, reden über Flüchtlingsströme, den Islam oder die Terrorgefahr, weil es uns schwerfällt, wirklich nach vorn zu schauen und ein Bild von der Welt zu entwerfen, in der wir leben wollen. Die Politik riskiert den großen Wurf nicht mehr, und steckt schon längst in einer Sackgasse, die wir im persönlichen Bereich mit „Burnout“ bezeichnen würden. Klitzekleine Korrekturen an der Politik der Vorgänger (minimale Änderungen bei der Hartz IV-Reform) werden grandios gefeiert. Auch auf der Europa-Ebene ist die Lähmung allgegenwärtig – wo ist da noch eine Vision erkennbar, die auch nur irgendwen begeistert?
Gibt es wenigstens ein europaweites Bahnprojekt? Einen kleinen Transrapid, wie früher mal geplant? Oder mal ein gezieltes Umsiedlungs- oder Investitionsprojekt von Firmen aus den reichen in die ärmeren Gegenden? Ein europaweites Beschäftigungsprogramm, getragen von Arbeitszeitverkürzungen, da wo die Arbeit stressig und das Personal reichlich ist? Große ökologische Initiativen, die Sonne und Windkraft überall in Europa nutzen? Ein fulminantes europäisches Fernsehprogramm, dass die Nachrichtenoffensive aus Russland oder die Propaganda der Türkei blass aussehen lässt? Eine „Regio-first“-Initiative zur Eindämmung unsinniger Transporte? Kooperation bei der Entwicklungszusammenarbeit? Warum nicht ein paar Modellstaaten in Afrika mit guter Regierungsführung richtig unterstützen und zu Leuchttürmen machen – dass vielleicht sogar Europäer Lust haben, dahin auszuwandern? Und da, wo wirklich Not ist, ob Somalia, Südsudan, oder Nordnigeria, mit vereinten europäischen Kräften helfen, statt immer auf Amerika zu warten? Das könnte die europäische Idee beleben – statt all der Rückzugsgefechte in Brüssel oder Straßburg, in denen um die Eindämmung der Flüchtlingsströme, die Sicherung der Außengrenzen oder die langweiligen Briten geht, die mit ihrem Brexit weiter vom Empire träumen wollen. Der eigentliche Kern von Europa, europäische Werte, Kultur, Vielfalt und Lebendigkeit bleiben außen vor. Europa muss mehr sein als ödes Palaver und Debatten um Nebensächliches – es muss sich zeigen und nach vorne gehen.
Letztendlich läuft es im Großen ähnlich wie im Kleinen. Haben wir das einmal verstanden, kann es auch ganz schnell gehen. Denn unsere Zukunft ist – selbst wenn unser Portemonnaie leer ist – noch von niemandem gekauft. Es ist manchmal schön zu erleben, das aus nichts etwas werden kann. Darum setze ich mich hin und schreibe einfach mal auf, was in meinem Leben noch passieren soll. Das mache ich jeden Tag, und ich merke, dass mir langsam Flügel wachsen. Vielleicht kann ich diese Begeisterung auch auf andere übertragen. Denn ich glaube, wir sind im Augenblick nur müde. Aber noch lange nicht am Ende unserer Mission. Wir aus der westlichen Welt. Denn schaut euch nur an wie das Leben in Russland, in China oder der Türkei wirklich aussieht. Wie es zum Beispiel um die Freiheiten der Bürger bestellt ist. Ich glaube nicht dass wir da neidisch sein müssen. Aber die Freiheit die wir jetzt gerade haben, sollten wir nicht gering achten. Sie ist ein Geschenk. Ein historischer Moment, wie ein Flügelschlag. Er kann uns nach oben treiben, aber auch schnell vergehen. Also fangen wir etwas damit an!